Was ist “rejected knowledge” / “abgelehntes Wissen” und wie hängt es mit der Wissenschaft der Zukunft zusammen?

Der Begriff „rejected knowledge“ (deutsch „abgelehntes oder verworfenes Wissen“) ist ein Begriff, der erstmals Ende der 1970er Jahre in der Wissenssoziologie aufkam. Er bedeutet „heterodoxes Wissen“ oder „heterodoxe Wissenschaft“, d. h. Wissen, das von der Lehre des an den Universitäten gelehrten (oder des „herrschenden“ oder dominanten) Wissens abweicht. Man nennt dieses Gebiet in der Wissenssoziologie auch „heterodox science“, „deviant science“ (abweichende Wissenschaft) (McClenon 1984; Ben-Yehuda 1985), „nicht-hegemoniales Wissen“ (Kassung, Paletschek, Schüttpelz & Zander 2016), „frontier sciences“ (Rubik 1996), „unconventional science“ (Mauskopf 1979), „marginal science“ (Mauskopf 1990) oder einfach „Grenzgebiete der Wissenschaft“. Die Gegner (v. a. die sogenannten „Skeptiker“) nennen das Gebiet „Pseudowissenschaft“ oder „pathological science“ (Langmuir 1989).

Was sind Grenzgebiete der Wissenschaft? (November 2000)


Geschichte des Begriffes

Erstmals verwendete der Buchhändler John M. Watkins (1858-1947) in London den Begriff „rejected knowledge“ im Jahre 1897, als er seinen ersten Katalog für gebrauchte und verbilligte Bücher auf dem Gebiet der Magie, des Okkultismus und der Spiritualität veröffentlichte. Damals war seine Buchhandlung noch an der Charing Cross Road Nr. 26 im Zentrum Londons. 1901 zog er mit seiner Buchhandlung zum Cecil Court Nr. 21, nahe der U-Bahn-Station Leicester Square, wo sich seine Nachfolger immer noch befinden, die immer noch als „Watkins Books“ firmieren. Watkins, der ein persönlicher Freund und Schüler von Helena P. Blavatsky, der Begründerin der Theosophie, war, verstand sein Geschäft als „University of Rejected Sciences“.

In seinem Buch „The Occult Establishment“ (1976) verwendet James Webb (1946-1980) den Ausdruck „rejected knowledge“ für Ideen, die an einem bestimmten Punkt in der Geschichte vorherrschten, dann aber den Widerstand der Wissenschaft erfuhren, und schließlich von dieser als falsch abgelehnt wurden.

Zum Beispiel ist der Vitalismus – der Glaube an eine Art von „Energie“ oder „Lebenskraft“, die in allen Dingen am Werk sein soll – , nachdem er jahrhundertelang Mainstream-Wissenschaft war, in den letzten zwei Jahrzehnten vom Mainstream der Wissenschaft abgelehnt worden, doch dieses „abgelehnte Wissen“ wurde dennoch in der Gegenwart zentral in Ideen wie der biologischen Landwirtschaft oder der alternativen Medizin. Diese Ideen sind gegenwärtig Teil der aktuellen Kritik an der Modernität und der Wissenschaft.
Diese jahrzehntelange oder gar jahrhundertelange Kontinuität von solchen Überzeugungen, die vom wissenschaftlichen Mainstream abgelehnt werden, wurde von James Webb der „Untergrund des abgelehnten Wissens“ genannt. Diejenigen, die nach der Auffassung Webbs von der Gesellschaft entfremdet sind, neigen dazu, etabliertes Wissen mit der etablierten sozialen Ordnung zu identifizieren und sich deshalb dem „abgelehnten Wissen“ zuzuwenden als Basis für ihre Ablehnung des Mainstreams.


Roy Wallis „On the Margins of Science“

In seinem Buch “On the Margins of Science: The Social Construction of Rejected Knowledge” (1979) hat der nordirische Soziologe Roy Wallis (1945-1990), Professor an der Universität von Belfast, den Begriff schließlich in der Wissenssoziologie etabliert. In seiner Einführung zu dem Band als Herausgeber schreibt Wallis, dass

„… bis vor kurzem die Akzeptanz oder Ablehnung von Ideen innerhalb oder an den Grenzen der Wissenschaft kaum je als eine Angelegenheit soziologischer Überlegungen betrachtet wurde. Soziologen pflegten eine unterwürfige Haltung gegenüber der dominanten wissenschaftlichen Orthodoxie und akzeptierten, dass in Bezug auf den „esoterischen“ (im Sinne einer nur den Eingeweihten zugänglichen) Inhalt der Wissenschaft, die Wissenschaftler selbst am besten Bescheid wüssten. Typisch für diesen Standpunkt ist z.B. die funktionalistische Betrachtungsweise der Wissenschaft, wie sie von Robert K. Merton (1910-2003) und Norman W. Storer (1929-2011) in den 60er und 70er Jahren vertreten wurde.

Für die meisten Soziologen bedeutete das, dass die gegenwärtig akzeptierte Wissenschaft die „Wahrheit“ repräsentierte, zu der man mit absolut zuverlässigen Mitteln durch die „wissenschaftliche Methode“ gelangte. Man war davon überzeugt, dass Logik und die technischen Prozeduren der betreffenden wissenschaftlichen Disziplin nicht nur eine vollständige Rechtfertigung, sondern auch eine hinreichende Erklärung für den gegenwärtigen Inhalt des wissenschaftlichen Wissens lieferten.

Die Rolle des Soziologen war eine sehr begrenzte – man konnte Untersuchungen über die sozialen Beziehungen, die zur Produktion dieses Inhaltes führten , oder die Herkunft oder die Produktivität verschiedener Wissenschaftler, die politische Ökonomie, die zu einer verstärkten oder gehemmten Produktivität der einen oder anderen Nation führten oder die ideologischen Vorurteile, sozialen Einflüsse oder „irrationalen“ Bindungen, die zu Abweichungen in diesem Inhalt führten, durchführen. Aber es gab keinerlei Raum für die soziologische Diskussion dieses Inhaltes selbst.

Seit kurzem – vor allem unter dem befreienden Einfluss von Thomas Kuhns (1922-1996) kühner Herausforderung an diese selbstgefällige Sicht von wissenschaftlichem Wissen – haben Soziologen und Historiker eine methodologisch „agnostische“ – d.h. keinen oder einen neutralen Standpunkt in Bezug auf die Wahrheit wissenschaftlicher Statements einnehmend – Sicht auf die Wahrheitsbehauptungen von Wissenschaftlern angenommen. Karl Poppers (1902-1994) Kritik der Induktion und dem Verifikationismus der Positivisten – , der versuchte, Kriterien für die Sinnhaftigkeit von philosophischen Aussagen aufzustellen und ihre Wahrheit oder Unwahrheit objektiv festzustellen – eliminierte eine Barriere dafür. Wenn die Wahrheit von wissenschaftlichen Aussagen nie mit absoluter Gewissheit festgestellt werden konnte, dann verschwanden Kriterien für die Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum. Die Kritik am Falsifikationismus von Popper ihrerseits hat gezeigt, dass es grundsätzlich keine hieb- und stichfeste Gründe für eine Überzeugung gibt und dass die Gründe, die verwendet werden zu diesem Zweck, in vielen Punkten eine Sache von Konventionen (Übereinkünften) sind, über die Entscheidungen getroffen werden im Kreis von professionellen Kollegen auf der Basis der Intuition von praktizierenden Wissenschaftlern. Imre Lakatos (1922-1974) hat schließlich den konventionellen Charakter der Gründe, auf welche Entscheidungen in wichtigen Punkten der wissenschaftlichen Unternehmungen basieren, betont (Lakatos & Musgrave 1970). Die Logik und „Tatsachen“ liefern einfach keine zureichenden Gründe, auf denen solche Entscheidungen getroffen werden können.

Wissenschaftssoziologen wie Harry Collins haben den ausgehandelten Charakter von wichtigen methodologischen Fragen, so z.B. was als eine Replikation eines Experimentes gelten soll, gezeigt.

Das allgemein sich verändernde Ethos in der Soziologie der Wissenschaft bietet eine Gelegenheit für eine breit angelegte nochmalige Überprüfung des „abgelehnten Wissens“. Die Unterminierung des „entscheidenden Experiments“ als ein endgültiger Schiedsrichter in der langfristigen Überprüfung eines Forschungsprogramms oder Paradigmas fordert uns heraus, eine nochmalige Prüfung der historischen, sozialen und kognitiven Umstände zu unternehmen, die den Erfolg oder Misserfolg von bestimmten Wissensbehauptungen umgeben oder in diese eingebettet sind. Das Ziel der vorliegenden Sammlung von Aufsätzen ist es, einen Beginn für eine solche nochmalige Überprüfung zu machen“ (Wallis 1979).


Der von Roy Wallis herausgegebene Sammelband umfasst zwei Aufsätze, die allgemeine Überlegungen über „abweichende Wissenschaft“ und die Rolle von Interessen im Prozess der wissenschaftlichen Veränderung enthalten, und Studien über Mesmerismus, Astrologie, Akupunktur, Phrenologie, Spiritualismus, Parapsychologie und Ufologie.

In Deutschland beschäftigte sich am 15.-17. Mai 1980 das 18. Symposium der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte an einem Kongress in Marburg mit „verdrängten Wissenschaften“ – wahrscheinlich das erste Mal, dass der Begriff in deutschen Sprachbereich auftauchte. Die Gesellschaft verstand damals unter dem Begriff „vergessene und ‚überholte‘ Wissenschaften der Vergangenheit, die irgendwie noch lebendig“ seien, aber nur in der Wissenschaftsgeschichte, z.B. Alchemie, Astrologie, Magie, aber auch Kameralistik – die Wissenschaft von der staatlichen Verwaltung – oder die Vergleichende Morphologie in der Botanik.


Wouter Hanegraaffs „Esotericism and the Academy“

Heute ist der Begriff weit verbreitet. So verwendet z.B. der niederländische Kulturhistoriker und Religionswissenschaftler Wouter J. Hanegraaf, der seit 1999 Professor der Geschichte der Hermetischen Philosophie und verwandter Strömungen an der Universität von Amsterdam ist, in seinem Buch “Esotericism and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture” (2012) den Begriff. Hanegraaf rekonstruiert die Geschichte der Westlichen Esoterik auf seine eigene Weise. Ich habe eine Zusammenfassung im Folgenden, zum größten Teil stärk gekürzt und übersetzt, aus Passagen von Hanegraafs Buch zusammengestellt.

Nach dem niederländischen Wissenschaftler begann die Geschichte der „Westlichen Esoterik“ in der Renaissance (15. Jahrhundert), wo die Protagonisten der „Platonischen Akademie“ von Cosimo de‘ Medici in Florenz, Marsilio Ficino und Giovanni Pico della Mirandola, das antike Erbe aus dem alten Griechenland für Europa nach dem langen Mittelalter wieder zugänglich machten. Sie verstanden aber unter dem antiken Erbe etwas ganz Spezifisches. Erstens ging es praktisch nur um den Platonismus (nicht um Aristoteles), zweitens beriefen sie sich eher auf den Mittleren oder den Neo-Platonismus, z.B. auf Autoren wie Jamblichus, Porphyrius oder Proclus. Außerdem betrachteten sie dieses Erbe aus der Antike als „Weisheit des Altertums“, die weit ins heidnische Altertum zurückreichte. Es ging nach diesen Autoren zurück auf Zarathustra, Hermes Trismegistos und Orpheus. Tatsächlich hatte der Neoplatonismus, im Gegensatz zu Plato selbst, viel spätantikes Wissen aus der Gnostik und dem Hermetismus aufgenommen. Daraus entstand das Konzept der „Prisca Theologia“ (ursprüngliche Theologie) von Marsilio Ficino und „Philosophia Perennis“ (ewige Philosophie) von Agostino Steuco für ein Wissen, das weit über Plato in die Vergangenheit hinausreichte und in der Weisheit von Zarathustra, Hermes Trismegistos , Pythagoras und Orpheus ihren Ursprung hatte. Heute nennt man diese Ausprägung des Neoplatonismus „Platonischen Orientalismus“.

Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts begann aber das Narrativ der „Alten Weisheit“ und seiner dazugehörigen Disziplinen an intellektueller Glaubwürdigkeit zu verlieren, als die ihm zugrundeliegenden Annahmen durch neue Entdeckungen und theoretische Perspektiven im Bereich von Philologie, Philosophie und Naturwissenschaften in Frage gestellt wurden. Hanegraaff führt dann weiter aus, dass das, was man heute unter „Westlicher Esoterik“ versteht, zum ersten Mal als ein eigenes Wissensgebiet wahrgenommen und gedacht wurde durch die „anti-apologetischen“ Autoren des späten 17. Jahrhunderts. Das passierte jedoch als ein Resultat einer langen Tradition von anti-platonischer und, allgemeiner ausgedrückt, anti-heidnischer Polemik, die durch das Wiederaufleben des Platonismus im florentinischen Humanismus des 15. Jahrhunderts und seiner Erben provoziert wurde. Vom Moment an, als der „Platonische Orientalismus“ auf der Bühne des italienischen Humanismus auftauchte, war er begleitet von seinem anti-platonischen Schatten. Als Georgios Gemisthos Plethon, der Griechischlehrer von Marsilio Ficino, der die platonische Renaissance im italienischen Humanismus erst anstieß und der „der Neue Platon“ genannt wurde, den Aristoteliker Georg von Trebizond während des Konzils von Florenz traf, hasste dieser Plethon als „giftige Viper“, die darauf aus war, das Christentum zu zerstören und durch das hellenistische Heidentum zu ersetzen. Unter den geneigten Lesern von Georg von Trebizonds Werk „Comparatio philosophorum Platonis et Aristotelis“ (1458) waren der berühmte florentinische Prophet Savonarola und sein Anhänger Gianfrancesco Pico della Mirandola, der Neffe des Platonisten Giovanni Pico della Mirandola. Dessen Werk „Examen vanitatis doctrinae gentium“ (1520) war im Wesentlichen ein Versuch, zu zerstören, was sein Onkel aufgebaut hatte. Das Werk des Neffen stellt das früheste Beispiel einer „anti-heidnischen“ Reaktion in der Historiographie des Denkens der Renaissance dar, und das erste in einer Reihe von Publikationen, die den Weg für die Anti-Apologetiker des 17. Jahrhunderts frei machten.

Zunächst ist da eine Reihe von Schriften im Zuge der Hexenverfolgung zu erwähnen, die sich ja zeitlich parallel zu dem „Alte Weisheits“-Diskurs abspielte. Es war unvermeidbar, dass irgendwann Kritiker die Frage stellen würden, ob die „gelehrte Magie“ der Florentiner Platonisten so schuldlos des Dämonismus waren, wie sie behaupteten. Der „Malleus Maleficarum“ (Hexenhammer, 1486) des Dominikaners Heinrich Kramer war noch zu früh, um von Picos magischen Thesen oder Ficinos astraler und talismanischer Magie in dessen Werk „De vita coelitus comparanda“ (1489) beeinflusst zu werden, aber der Einfluss der Florentiner Platonisten kann deutlich beobachtet werden in der wichtigen Hexenverfolgungs-Abhandlung des niederländischen Arztes Johann Weyer, „De praestigiis daemonorum“ (1563). Weyers Bedeutung in diesem Kontext liegt darin, wie er die Vorstellung einer Geschichte des heidnischen Irrtums in eine von dämonischer Infiltration verwandelte. Die Weisen des Altertums werden von ihm nicht nur als Philosophen, die des Lichtes der Offenbarung beraubt waren, sondern als Werkzeuge des Teufels und seiner Legionen von Dämonen behandelt. Weyers Genealogie von Dämonen-Verehrung ist ein perfektes Beispiel des „Platonischen Orientalismus“, der ins Negative gedreht wurde. Jean Bodin stößt in seinem Werk „De la Démonomanie des Sorciers“ (1580) ins selbe Horn. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung war die Veröffentlichung von „Nova de universis philosophia“ (1591) von Francesco Patrizi. Es war eine großartige philosophische Synthese über die Grundlagen des Platonischen Orientalismus, virulent anti-aristotelisch. Das Buch war gedacht als alternatives Lehrbuch für die Philosophieerziehung in der katholischen Kirche. Es war klar, dass die mächtigen Verteidiger der scholastischen Theologie das Buch als Provokation empfinden würden. Es führte denn auch zu einem Anstieg der anti-platonischen Gefühle von der letzten Dekade des 16. Jahrhunderts an.

Nur drei Jahre später erfolgte dann eine Voll-Attacke auf den Platonismus aus dem gleichen Milieu der katholischen Gegenreformation wie das Buch von Patrizi. Es handelte sich um das Buch „De Platone caute legendo“ von Giovanni Battista Crispo (1594). Mit diesem Buch begann eine ausgedehnte Debatte über den „Platonismus der Kirchenväter“. Crispos Angriff auf den Platonismus war extrem streitlustig und durchzogen von militärischen Metaphern. Seine Geschichte beginnt mit Satan, der „alten Schlange“, die von ihrem himmlischen Sitz gefallen war vor der Schöpfung des Menschen. Im selben Moment, wo die himmlische Wahrheit uns mit der Geburt Christi „herabgesandt wurde vom Himmel“, begann sie der Teufel zu bekämpfen, die heidnischen Philosophen (die „Patriarchen der Ketzer“) als seine Hauptwerkzeuge. Auf den ersten Blick sieht es so aus, dass die Schlacht von den Heiden und ihren perversen Lehren verloren wurde, da ja die Kirche siegreich war. Aber die Kirchenväter machten einen fatalen Fehler: statt auf der exklusiven Wahrheit des christlichen Glaubens gegen das absolute Übel der der heidnischen Religion zu bestehen, ließen sie sich auf eine Praktik der „vergleichenden Religion“ ein. So schrieben die Kirchenväter den Göttern Griechenlands etwas Frommes oder Religiöses zu und von da war es nicht mehr weit, auch den Ägyptern das gleiche zuzugestehen. Durch diese Methode, die die Kirchenväter selbst praktizierten, geschah es, dass der Krieg gegen das Heidentum etwas „Innerkirchliches und Verborgenes“ wurde; die Kirche musste nun den Feind in ihren eigenen Reihen bekämpfen. Die Schlussfolgerung von Crispos Buch war, dass man Plato mit äußerster Vorsicht lesen sollte. Crispo betrachtete Plato als die Quelle aller Häresien, einschließlich derjenigen der protestantischen Reformer. Wichtig war, dass Crispo die Kirchenväter nicht länger als unangreifbare Autoritäten betrachtete, sondern als fehlbare menschliche Wesen, die es erlaubt hatten, beeinflusst zu werden durch heidnische Philosophen und deren Werk deshalb mit „mit Vorsicht“ (caute) gelesen werden sollte – mit anderen Worten: kritisch. Crispo realisierte aber nicht, dass er mit seiner neuartigen Perspektive der Vorreiter eines neuen Ansatzes geworden war, der ein extrem wirksames Waffe werden sollte im Kampf der protestantischen „Ketzer“ gegen die Kirche.

Von der zweiter Hälfte des 17. Jahrhunderts an begannen nämlich deutsche protestantische Historiker eine systematische Attacke gegen den traditionellen Ansatz des „Platonischen Orientalismus“, und indem sie das taten, entwickelten sie eine neue theoretische Perspektive, aus der die Geschichte der Philosophie als eine moderne akademische Disziplin hervorging. Dabei schufen sie, was heute als „Westliche Esoterik“ bekannt ist. Ihr Ansatz ist in der Theologie- und Philosophiegeschichte als „Anti-Apologetik“ bekannt geworden, ein Begriff, der ihre Ambitionen betont, eine radikale Alternative zu der apologetischen Tradition der Kirchenväter zu entwickeln, die sie nicht nur verantwortlich machten für die schädliche „Hellenisation des Christentums“ seit den ersten Jahrhunderten, sondern auch für eine parallele Degeneration der Philosophie zu einer Pseudophilosophie.

Die Geschichte der „Anti-Apologetik“ beginnt mit Jacob Thomasius (1622-1684), dem Vater des berühmteren Christian Thomasius und einem der Lehrer von Leibniz. Thomasius veröffentlichte 1665 ein Buch mit dem Titel „Schediasma historicum“. Es war revolutionär in seiner radikalen und systematischen Art, wie es heidnische Philosophie von biblischer Religion unterschied. Thomasius ging viel weiter in dieser Hinsicht als andere frühe Historiker der Philosophie wie z.B. Georg Hornius und Gerhard Johannes Vossius, und seine Argumentation war begründet in einer Kombination von sorgfältiger philosophlscher Analyse und historischer Kritik. Sein Ziel war, die christliche Theologie von ihrer Verunreinigung durch heidnische Irrtümer zu „reinigen“. Thomasius war nicht nur ein kritischer Historiker der Philosophie, sondern zu allererst und vorwiegend ein frommer Lutheraner, der glaubte, dass die biblische Offenbarung die einzige verlässliche Quelle von religiöser Wahrheit war und der die Geschichte des Christentums von der Periode der Kirchenväter bis zur Reformation für eine Geschichte des Irrtums und der Degeneration hielt. Für Thomasius war die eigentliche Quelle der Ketzerei die heidnische Philosophie und der Platonismus im Besonderen. Das Buch von Thomasius war eine technische Abhandlung in Latein mit vielen Anmerkungen, was es schwierig machte sie zu lesen, aber das Verdienst von Thomasius war es vor allem, dass das Buch die konzeptuellen Grundlagen legte für das wegweisende Werk von Ehregott Daniel Colberg (1659-1698) mit dem Titel „Platonisch-Hermetisches Christentum“ (1690-1691), das der Westlichen Esoterik als einem speziellen Wissensgebiet zur Geburt verhalf.

Das Werk von Colberg besteht aus einer kompromisslosen und frontalen Attacke gegen das, was damals bekannt war als „fanatische“ oder „enthusiastische“ Theologie, die typisch war für die Milieus des Reformations-Spiritualismus, mit einer starken Betonung auf dem Paracelsismus, die Weigel-Anhänger, das Rosenkreuzertum, und die christliche Theosophie in der Tradition von Jakob Böhme. Was macht Colbergs extrem feindliche Attacke auf diese Strömungen und deren Ideen wichtig für die Geschichte der Westlichen Esoterik? Die Antwort ist, dass dieses Buch das erste war, das ein komplettes historisches und intern konsistentes historiographisches Konzept entwarf, das alles, was heutzutage unter der Rubrik der Westlichen Esoterik studiert wird, verband. Colberg zog nicht nur Linien der Kontinuität von den platonischen und hermetischen Strömungen der späten Antike durch die Renaissance bis zum Tag der Publikation seines Buches, sondern er schaffte es auch, das auf der Basis einer klar formulierten Theorie zu tun, wie und auf welche Weise sie alle zusammenhingen. Kurz gesagt, Colbergs Buch begründete das „Platonisch-Hermetische Christentum“ als ein spezifisches religiöses Studiengebiet mit einer eigenen Identität. In seinem Versuch, die „Enthusiasten“ und Schwärmer seiner Zeit als heimliche Heiden zu entlarven und in einer langen platonisch-hermetischen Tradition zu platzieren, wurde Colberg zum ersten Autor, der ein komplettes und intern konsistentes historiographisches Konzept entwarf, das alles verband, was bis ins späte 17. Jahrhundert unter diesem Begriff bekannt war und heute unter der Rubrik „Westliche Esoterik“ studiert wird.

Einer der wichtigsten und letzten Anti-Apologeten war Johann Jacob Brucker (1696-1770). Mit seiner „Historia critica philosophiae“ (1742-1744), die in 6 Bänden erschien, war er die unsichtbare, doch omnipräsente Autorität in der Philosophie des 18. Jahrhundert und auch noch weit ins 19. Jahrhundert, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Eines der größten Lexika der Aufklärungszeit, Johann Heinrich Zedlers (1706-1751) „Großes vollständiges Universal Lexicon“, das in 64 Bänden und 4 Supplementbänden 1732 bis 1754 publiziert wurde, übernahm die philosophischen Einträge wörtlich oder in Umschreibungen aus Bruckers Werk und sogar Denis Diderots berühmte „Encyclopédie“ (1751-1765) plünderte Bruckers Werk ohne Skrupel. Diderots „Encylopédie“ beeinflusste die ganze Aufklärungszeit auf mächtige und nachhaltige Weise. Wie behandelte Brucker nun die Geschichte der Philosophie? Er folgte den Prinzipien des Aufklärungs-Eklektizismus seiner Vorgänger Christian Thomasius und Christoph August Heumann (1681-1764) und unternahm es, die gesamte Geschichte des menschlichen Denkens mit dem Ziel, den philosophischen „Weizen“ vom pseudo-philosophischen „Spreu“ zu scheiden. Er tat dies im Gegensatz zu seinen Vorgängern mit allen Formen sowohl der heidnischen Philosophie wie auch des christlich-heidnischen Synkretismus, die er studierte und in peinlich genauem Detail diskutierte, mit dem Ziel, in jedem Fall zu demonstrieren, ob es auf Vernunft oder Aberglauben basierte.

Als Resultat davon bestehen die „Historia critica philosophiae“ und ihre kürzere Zusammenfassung „Kurze Fragen aus der philosophischen Historie“ (1731-1736) aus zwei verschiedenen Strängen, die er „philosophia eclectica“ und „philosophia sectaria“ nannte – der erste spürt der Geschichte der Philosophie von ihren ältesten Ursprüngen nach und der zweite verfolgt die Geschichte ihres polemischen „Anderen“, d.h. der „Westlichen Esoterik“. Diese Präsentation wurde zur normativen, der Intellektuelle im 18. Jahrhundert und bis weit ins 19. Jahrhundert folgten und war fundamental für die Art und Weise, wie die Aufklärung ihre eigene Identität definierte. Zu der „philosophia sectaria“ gehörten drei große Systeme, Neoplatonismus, Kabbalah und Theosophie (wie Paracelsus und seine Schüler, Valentin Weigel, Robert Fludd, Jacob Böhme und seine Nachfolger, Vater und Sohn Van Helmont und die Rosenkreuzer). Der Neoplatonismus, so urteilte Brucker, fußte auf einem „unbegründeten Enthusiasmus“, indem seine Anhänger fortwährend irregeführt wurden von den Hervorbringungen ihrer überhitzten Einbildungskraft. Der Theosophie warf er gleichermaßen vor, sie wäre schuldig, der gefährlichen Lehre der „Schwärmerei“ und der Selbstvergötterung zum Opfer zu fallen, die in einer „heimlichen Hybris“ des menschlichen Herzens begründet war.

Bruckers Werk ist repräsentativ für den historischen Moment, an welchem die Erinnerung der verschiedenen Strömungen und Ideen, die zur heimlichen heidnischen Religion gehörten, welche im Christentum versteckt war – d.h. das was man heute die „Westliche Esoterik“ nennt – immer noch intakt waren unter den Intellektuellen Europas. Aber zur gleichen Zeit legte das Werk Bruckers die Fundamente, auf die gestützt diese Erinnerung in späteren Generationen an den Rand gedrängt wurde. Brucker selbst und seine anti-apologetischen Vorgänger schenkten noch allen wichtigen Strömungen und Persönlichkeiten in der Geschichte der „Westlichen Esoterik“ ernsthafte, nachhaltige und kritische Aufmerksamkeit. Aber noch wichtiger war, dass sie das auf der Basis eines konsistenten theoretischen Konzeptes taten, welches ihnen erlaubte, das Gebiet als eine im Wesentlichen einheitliche Tradition zu sehen. Aber das Wesen selbst dieses theoretischen Konzeptes beinhaltete, dass ihre Vertreter das Gegenstück sowohl von Vernunft wie auch von Glaube waren, und deshalb nach Brucker nicht den Anspruch hatten, ein legitimer Teil von der Geschichte von Vernunft und Glaube zu bilden. War erst mal die nichtphilosophische und gleichzeitig nichtchristliche Natur dieser Denker erkannt, gab es keine Notwendigkeit, ihnen in der Geschichte von Philosophie und Christentum viel Aufmerksamkeit zu schenken. Von da an begannen sie aus den Lehrbüchern der Philosophiegeschichte und der Kirchengeschichte zu verschwinden, wo sie heute noch immer den Status von bloßen Fußnoten haben.

Einige der wichtigsten Kennzeichen des anti-apologetischen Schrifttums von Jacob Thomasius bis Johann Jacob Brucker ist, welche Kern-Überzeugungen sie ihren Gegnern zuschreiben. In seinem Buch „Schediasma historicum“ betonte der Gründer der Anti-Apologetik, Jacob Thomasius, dass zwei Elemente für das, was er als „Heidentum“ sah, fundamental seien. Das erste Element war die Überzeugung, dass die Welt „gleichewig“ mit Gott war – im Gegensatz zu der Doktrin der „Creatio ex nihilo“ (Schaffung aus dem Nichts) des orthodoxen Glaubens –, und dieser „Ur-Irrtum“ führte zu einem zweiten, dem „enthusiastischen“ Glauben, dass menschliche Wesen direktes Erfahrungswissen (Gnosis) von ihrer eigenen göttlichen Natur haben könnten. Dieses erste Element kann eine Vielzahl von Formen annehmen, aber am typischsten im Kontext der „Westlichen Esoterik“ sind die vielen „panentheistischen“ Varianten, die als „Kosmotheismus“ (Jan Assmann) bezeichnet werden können – der Glaube, dass das Göttliche in der Welt zuhause ist. Das zweite Element des Heidentums nach Thomasius folgt logisch aus dem ersten. Die platonische Lehre von der Emanation und der anschließenden Restitution lehrt, dass die menschliche Seele ihren Ursprung in einer ewigen göttlichen Substanz hat und eines Tages wieder zu ihr zurückkehrt. Die Konsequenz davon ist, dass menschliche Wesen eine angeborene Fähigkeit haben, das Göttliche zu erkennen: sie sind nicht davon abhängig, dass Gott sich ihnen offenbart (wie im klassischen Monotheismus, wo die Kreatur davon abhängig ist, dass Gott die Initiative ergreift), noch ist ihre Kapazität für das Wissen begrenzt auf die körperlichen Sinne und den natürlichen Verstand (wie in der Wissenschaft und der rationalen Philosophie), sondern die Natur ihrer Seelen erlaubt ihnen einen direkten Zugang zu der höchsten, ewigen Substanz des Seins. Ein solches direktes Erfahrungswissen, oder Gnosis, wird zugänglich durch „ekstatische“ Zustände des menschlichen Geistes. Der esoterische Diskurs ist nicht so sehr charakterisiert durch den Anspruch von höherem oder perfektem Wissen, sondern vielmehr durch den Anspruch, dass direktes Wissen über die höchste Realität möglich und greifbar ist für die, die ihm nachstreben. Diese Eigenschaften sind noch heute die wichtigsten Kennzeichen der „Westlichen Esoterik“.

Wenn die „Westliche Esoterik“ als relativ eigenständiger Wissensbereich empfunden wird, dann ist das nach Hanegraaf nicht so sehr deshalb, weil sie eine Art von geheimer gnostischer und kosmotheistischer „Gegenkultur“ ist, die historisch in der christlichen und weltlichen Gesellschaft existiert hat, sondern weil sie polemisch als solche konstruiert worden ist. Der Prozess der polemischen Konstruktion, der dann gefolgt wurde von dem Ausschluss des Konstruktes als „abgelehntes Wissen“, fand statt in der zweiten Hälfte des 17. und im 18. Jahrhundert, und ist untrennbar verbunden mit der Konstruktion moderner Identitäten in diesem und den folgenden Jahrhunderten. Der Protestantismus definierte sich gegen den römischen Katholizismus und lehnte diesen als eine „heidnische“ Degeneration des wahren Christentums ab, doch der „orthodoxe“ – d.h. der anti-kosmotheistische und anti-gnostische – Protestantismus entdeckten zu ihrem Schrecken, dass die gleichen Häresien in protestantischem Kontext auftauchten.

Die Aufklärung baute direkt auf diesen protestantischen Polemiken auf und definierte ihre eigene rationale und wissenschaftliche Identität gegen dieselben Gegner, aber gewährte ihnen nicht länger die Würde einer intellektuellen „Tradition“: kosmotheistische Weltbilder wurden nun wahrgenommen als ein eitler, abergläubischer Irrglaube, dass die Natur durch Geister bewohnt wird, und Bezugnahmen auf die Gnosis waren nicht mehr zu unterscheiden vom Glauben eines albernen „Enthusiasmus“, wie er im Pietismus vorkam. Der erstere war unwissenschaftlich, der letztere irrational. Solche Perspektiven brauchte man nicht weiter ernsthaft zu widerlegen, sondern konnte sie einfach als Torheit und Dummheit abtun.

Auf diese Weise wurde die kulturelle Erinnerung dessen, was wir heute „Westliche Esoterik“ nennen, während des 18. Jahrhunderts als das polemische „Andere“ der Modernität konstruiert, welche seine eigene Identität definierte in diesem selben Prozess. Kosmotheismus und Gnosis tauchen als Alternativen auf, weil das Göttliche in der etablierten Religion von der Welt getrennt und dem menschlichen Wissen nicht zugänglich gedacht wurde. Gegen den Eklektizismus, der im Denken der Nach-Aufklärungszeit die Regel war, tritt Hanegraaf für eine anti-eklektischen Historiographie ein, die nicht auswählt, was sie als „wahr“ oder „seriös“ betrachtet, sondern den etablierten Kanon der modernen intellektuellen und akademischen Kultur (sein kollektives „Gedächtnis“) in Frage stellt und erkennt, dass unser gemeinsames Erbe von viel größerem Reichtum und Komplexität ist, als man aufgrund von offiziellen Lehrbüchern vermuten würde.

Deshalb ist es nicht mehr statthaft, Alchemie oder Astrologie aus der Wissenschaftsgeschichte auszuschließen, wie einige Gelehrte endlich begonnen haben zu realisieren. Es ist nicht mehr akzeptabel, das 18. Jahrhundert zu einem „Zeitalter der Vernunft“ zu reduzieren, indem man still und heimlich die überwältigenden Beweise, dass es gleichzeitig ein Zeitalter des Illuminismus und der Theosophie war, wo „esoterische“ Perspektiven Zwischenpositionen zwischen traditioneller Orthodoxie und radikalem Unglauben lieferten. Es ist auch inakzeptabel, okkultistische Tendenzen als bloße Überbleibsel abzutun, die für die Kultur der Modernität irrelevant waren, und es ist nicht akzeptabel, alle Formen der gegenwärtigen Esoterik als irrationalen Nonsens oder Bedrohungen für die Demokratie zu behandeln.


Universitäts-Professuren auf dem Gebiet des „abgelehnten Wissens“

„Abgelehntes Wissen“ ist auch der Gegenstand von vier Professuren an der Universitäten von Paris, Amsterdam, Halle und Exeter. Schon seit 1965 existiert an der École Pratique des Hautes Études, Universität von Paris (Sorbonne) ein Lehrstuhl der Geschichte der Christlichen Esoterik, den François Secret, ein Spezialist der Christlichen Kabbalah, innehatte. Von 1970-2002 hatte der Religionswissenschaftler Antoine Faivre den Lehrstuhl inne, der seither umbenannt wurde in Lehrstuhl der „Geschichte von esoterischen und mystischen Strömungen im modernen und gegenwärtigen Europa“, seit 2004 ist Jean-Pierre Brach sein Nachfolger. Antoine Faivre ist der wichtigste Pionier einer modernen wissenschaftlichen Untersuchung der Esoterik als alternative Geistesströmung der westlichen Geschichte. Er ist unter anderem der Autor folgender Bücher: „Kirchberger et l’Illuminisme du dix-huitième siècle“ (1966), „Mystiques, théosophes et illuminés au siècle des lumières“ (1976), „Epochen der Naturmystik“ (1979), „Philosophie de la Nature“ (1996), „Accès de l’ésoterisme occidental“ (1996) und „Esoterik“ (1996).

An der Universität von Amsterdam heißt der Lehrstuhl „Geschichte der Hermetischen Philosophie und Verwandter Strömungen“, und ist durch Wouter J. Hanegraaf besetzt. Hanegraaf hat unter anderem folgende Werke veröffentlicht: „New Age Religion and Western Culture“ (1998), “Esotericism and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture” (2002).

An der Universität von Halle-Wittenberg ist Monika Neugebauer-Wölk Professorin am Institut für Geschichte und ist Mitglied der Forschungsgruppe 529 der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) „Die Aufklärung im Bezugsfeld neuzeitlicher Esoterik“. Sie ist spezialisiert auf die Geschichte des 18. Jahrhunderts, das man im Allgemeinen als die Zeit der Aufklärung bezeichnet. Das konventionelle Bild der Aufklärung als Inbegriff des Vernünftigen und Rationalen wird zur Zeit einer Revision unterzogen, woran Neugebauer-Wölk maßgeblich beteiligt ist (Neugebauer-Wölk 1999, 2008). Wie schon Rolf Christian Zimmermann („Das Weltbild des jungen Goethe“, 1969) schrieb, ist „unsere Auffassung der Aufklärungszeit selbst ein aufklärerischer Mythos“. Sie wurde durch Kants Definition der Aufklärung bestimmt, ist aber nicht typisch für die Aufklärungszeit selbst. Sie steht am Abschluss der Aufklärungszeit und repräsentiert deren Resultat. Die Aufklärung hatte in Wirklichkeit eine „andere“, bisher übersehene Seite: die Esoterik. Das Denken der Aufklärung enthält viele Elemente esoterischen Denkens, die aber im 18. Jahrhundert als aufklärerisch und nicht als Gegensatz zur Aufklärung verstanden wurden. Die Esoteriker des 18. Jahrhunderts waren in keiner Weise Außenseiter und standen nicht im Gegensatz zur Aufklärung (Neugebauer-Wölk 1999, 2008). Das heute herrschende Bild der Aufklärung als Inbegriff der Vernunft und Rationalität entstand erst später.

An der Universität von Exeter (Südengland) lehrte bis vor kurzem Nicholas Goodrick-Clarke (1953-2012), der bis Februar 2012 den Lehrstuhl für Westliche Esoterik am Department für Geschichte bekleidete und Direktor des Exeter Centre for the Study of Esotericism (EXESESO) war. Seine Werke umfassen unter anderem: „Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus“ (1997), „Hitler's Priestess: Savitri Devi, the Hindu-Aryan Myth and Neo-Nazism“ (1998), „Helena Petrovna Blavatsky“ (2004). „The Western Esoteric Traditions: A Historical Introduction“ (2008).

Alle diese Professoren verstehen Esoterik als alternative Geistesströmung zur dominanten Weltanschauung in der Geschichte der westlichen Welt, die ein vernachlässigtes und bisher tabuisiertes Thema der Geschichtsforschung darstellt. Sie umfasst die Esoterik, die hermetische Philosophie, gnostische Strömungen, die Parapsychologie, den Okkultismus, Alchemie, Magie, die Kabbalah, das Rosenkreuzertum, das Freimaurerwesen etc.


Mein eigenes Verständnis des Begriffes „abgelehntes Wissen“

Im Zusammenhang des „Institute for Future Science & Medicine“ konzentriere ich mich auf diejenigen Bereiche des „abgelehnten Wissens“, die von Bedeutung sind für die Wissenschaft, besonders für Naturwissenschaft und Medizin, allerdings ohne den Rest außer Acht zu lassen.

Ich habe in meinem Buch „Tachyonen, Orgonenergie, Skalarwellen – Feinstoffliche Felder zwischen Mythos und Wissenschaft“ (2002) geschrieben:

„Ich plädiere (…) dafür, dass die Wissenschaftsgeschichte wissenschaftliche Disziplinen als ganzheitlich-kulturelle Phänomene betrachtet. Die Geschichte einer Disziplin darf nicht nur aus der Sicht der gegenwärtig herrschenden Richtung geschrieben werden, sondern muss die Unterströmungen und Subkulturen der Wissenschaft, die zurzeit am Rande gehalten oder ganz ausgegrenzt werden, berücksichtigen. Meist stellt sich dann heraus, dass sie in der Vergangenheit der jeweiligen Fachrichtung eine weitaus größere Wertschätzung erfahren haben. Eine Disziplin besteht nicht nur aus der aktuell dominierenden Lehrmeinung, sondern auch aus ihrem Verdrängten und Unbewussten, das heißt solchen Vorstellungen, die die zu einem bestimmten Zeitpunkt als nicht relevant, unwissenschaftlich usw. ausgegrenzt wurden. Früher waren sie jedoch durchaus präsent und können eines Tages auch wieder aus dem „Untergrund“ auftauchen und als bedeutsam anerkannt werden. Mit anderen Worten, auch die parawissenschaftlichen „Aberglaubens“- und „Pseudowissenschafts“-Aspekte der betreffenden akademischen Disziplin gehören dazu. Ohne ihre Berücksichtigung ist, so behaupte ich, ein vollständiges und integrales Verständnis eines Forschungs- und Wissensgebietes gar nicht möglich. Ein solches Verständnis ist vor allem für die Weiterentwicklung einer Disziplin unerlässlich, insbesondere in Zeiten, in denen das bisherige Paradigma verbraucht ist, nicht mehr richtig greift und die Notwendigkeit einer umfassenderen Sichtweise deutlich wird“ (Bischof 2002).

Die Geisteswissenschaft, vor allem aber auch die Naturwissenschaft sind genauso Modeströmungen unterworfen wie jeder andere Bereich des Lebens. Dabei richtet sich zu einem bestimmten Zeitpunkt die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler auf bestimmte Themen, andere werden vernachlässigt. Die Auswahl der Themen, die aktuell von der Forschung bearbeitet werden, erfolgt ebenso nach den allgemeinen kulturellen Kriterien wie nach wissenschaftlichen Kriterien. Wenn ein Thema aktuell gerade nicht in Mode ist, heißt das keineswegs, dass es wissenschaftlich widerlegt worden oder überholt ist, sondern dass es eben derzeit nicht in Mode ist. Ein Thema kann ebenso schnell wieder aktuell werden, wie es aus der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit verschwinden kann – und das, wie gesagt, meist aus nichtwissenschaftlichen, politischen oder allgemeinen kulturellen Gründen.

Im Bereich der wissenschaftlichen Subkulturen sind heterodoxe Subkulturen (Haenfler 2014) im Bereich des „abgelehnten Wissens“ entstanden, unter anderem:

Der Zusammenhang mit Wissenschaft und Medizin der Zukunft

Im „Untergrund des abgelehnten Wissens“, der in Form von Esoterik, Parawissenschaft, Alternativmedizin, Volksmedizin, Folklore, wissenschaftlichen Mythen usw. weiterlebt, werden viele der ins Abseits gedrängten Fragen, die derzeit nicht ins wissenschaftliche Weltbild einzuordnen sind, weiter diskutiert. Die Phänomene, die früher Anlass gegeben haben für die Entwicklung von Konzepten z.B. über „feinstoffliche Felder“, sind auch heute noch Teil der menschlichen Erfahrungswelt und sind nach wie vor unerklärt, daran ändert ihre Verdrängung durch die Wissenschaft nichts. Deshalb beschäftigen sich zu allen Zeiten Menschen damit.

Gerade diese „Anomalien“, d. h. durch die herrschende Wissenschaft einer bestimmten Zeit nicht erklärbare Phänomene (Humphreys 1968; Westrum & Truzzi 1978; Tennenbaum 1992; Magin 1997; Truzzi 2000; Corliss 2002; Meyer et al. 2015), können jeweils zum Anlass für wissenschaftliche Fortschritt oder gar wissenschaftliche Revolutionen bieten (Kuhn 1967). Es ist eine Tatsache der Wissenschaftsgeschichte, dass viele der grundlegenden Entdeckungen (Innovationen) in der Wissenschaft größtenteils nicht etwa aus der herrschenden Lehre entstanden sind, sondern von Außenseitern im betreffenden Fach oder sogar von Nichtwissenschaftlern geschaffen wurden – also dem „Untergrund des abgelehnten Wissens“ entstammen (Di Trocchio 1998; Harman & Dietrich 2013; Quart 2014; Wuketits 2015). Später berühmte Wissenschaftler wie Faraday, Darwin, Einstein oder Alfred Wegener sind Beispiele dafür, wie anfängliche Außenseiter in der Wissenschaft Erfolg hatten. Leider überwiegen aber die Beispiele, wie Außenseiter ausgegrenzt blieben, unabhängig vom wissenschaftlichen Wert ihrer Erkenntnisse.


Unkonventionelles Denken ist die Quelle der Innovation

Ich habe wiederholt meine Überzeugung ausgedrückt, dass ein intelligenter junger Mensch in der Regel hochmotiviert, voller Neugier, Wissbegier und Forschungsdrang seine Schulzeit antritt, dass ihm diese Motivation und Neugier aber im Laufe seiner Schul- und Hochschulzeit in der Regel gründlich ausgetrieben wird und er schließlich als angepasster Staatsbürger ins Berufsleben eintritt, der kein Interesse mehr an unkonventionellen Fragestellungen hat. Unkonventionelles Denken ist eine der wichtigsten Quellen der Innovation. Jederzeit neugierig zu sein auf das Leben und auf die Zusammenhänge im Leben (Blumenberg 1980; Jagodic et al. 2013; Ball 2013; Steinle & Naughton 2014; Naughton 2014) ist eine der essentiellsten Eigenschaften, die ein junger Mensch braucht, der ein kulturell kreatives Mitglied der menschlichen Gesellschaft (Ray & Anderson 2000) sein möchte, ob in der Wissenschaft, der Kunst oder auf anderen Gebieten der menschlichen Kreativität.

Diese Meinung wird bestätigt durch eine Studie aus dem Jahre 1968, die der Bildungsexperte Sir Ken Robinson anführt. In der Langzeit-Studie wurde eine Gruppe von 1600 Kindern für ihre Fähigkeit unkonventionell zu denken getestet – was man in Managerkreisen „Out-of-the-Box“-Denken nennt. Als die Kinder zwischen 3 und 5 Jahre alt waren, hatten 98% positive Ergebnisse. Als sie 8-10 Jahre alt waren, testeten nur 32% positiv und im Alter 13-15 Jahren nur 10%. Wurden jedoch 280‘000 Fünfundzwanzigjährige getestet, dann hatten nur 2% positive Resultate. Die Bilanz von Ken Robinson: 98% des unkonventionellen Denkens geht durch die Schule verloren; wenn wir Erwachsene werden, ist uns unsere Kreativität definitiv ausgetrieben.

Können wir uns das überhaupt leisten? Das ist ein Verlust für die Volkswirtschaft, weshalb wir vom „Institut for Future Science & Medicine“ uns dafür einsetzen, dass dieses Außenseiterwissen besser ausgeschöpft wird. Diesem Zweck dient die „Bibliothek des Abgelehnten Wissens“, aber auch das „Labor für Potentialentfaltung“.


Kreativität als Standortvorteil

Heute stehen die großen Städte in einem Wettbewerb um die kreativen Köpfe der Welt. Nach Richard Florida, Direktor des Martin Prosperity Institute und Professor für Business und Kreativität an der Rotman School of Management der University von Toronto in Kanada, ist es nicht so, dass Firmen und Universitäten, die an einem Ort ansässig sind, einen Standort attraktiv machen, sondern es ist genau umgekehrt: die allgemeine kreativitätsfördernde Atmosphäre, die an einem Ort herrscht, lockt kreativ Tätige an einen Ort und das zieht wiederum Firmen und Hochschulen an.


„Technologische und ökonomische Kreativität werden genährt durch und interagieren mit künstlerischer und kultureller Kreativität“ (Florida 2011, S. 6).

„Die wirkliche Triebkraft ist der Anstieg der menschlichen Kreativität als Schlüsselfaktor in unserer Ökonomie und Gesellschaft“ (Florida 2011, S. 5). „Der Zugang zu talentierten und kreativen Menschen ist für moderne Firmen, was der Zugang zu Kohle und Strahl einst war für die Stahlherstellung. Es bestimmt, wo Firmen sich niederlassen und wachsen wollen und dies wiederum bestimmt die Art und Weise, in der Städte sich im Wettbewerb verhalten“ (Florida 2011, S. 8).

„Die ‚Kreative Klasse‘ ist die normgebende Klasse unserer Zeit. Aber die Normen der kreativen Klasse sind verschieden von der mehr traditionellen Gesellschaft. Individualität, Selbstverwirklichung und Offenheit für Verschiedenheit werden der Homogenität, Konformität und der Anpassung vorgezogen, die das vorangegangene Zeitalter der Großindustrie und der Großorganisationen bestimmte“ (Florida 2011, S. 10).

„Deshalb hat der Kapitalismus seinen Bereich ausgedehnt, um die Talente von bis dahin ausgeschlossenen Gruppen von Exzentrikern und Nonkonformisten zu erobern. Indem er das tat, machte er wiederum eine weitere Mutation durch: Er nahm Leute auf, die früher als bizarre Außenseiter betrachtet worden wären, die am Rande der Bohème operiert haben, und platzierte sie in das Herz der Innovation und des ökonomischen Wachstums selbst“ (Florida 2011, S.7)

Florida definiert die „kreative Klasse“ wie folgt. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal der kreativen Klasse sei, dass ihre Mitglieder sich mit Arbeit beschäftigen, deren Funktion die „Kreation bedeutungsvoller neuer Formen“ sei. Die „kreative Klasse“ setzt sich aus zwei Komponenten zusammen. Einerseits dem „superkreativen Kern“ der kreativen Klasse, die Wissenschaftler und Ingenieure, Universitätsprofessoren, Dichter und Romanschriftsteller, Künstler, Unterhalter, Schauspieler, Designer und Architekten genauso wie die Vordenker der modernen Gesellschaft umfasst: Sachbuchautoren, Herausgeber, kulturelle Figuren, Think-Tank-Forscher, Analysten und andere Meinungsmacher. Neben dieser Kerngruppe schließt die kreative Klasse auch „kreative Fachleute“ ein, die die in einem breiten Bereich von wissensintensiven Industrien arbeiten, so z. B. im Hochtechnologiebereich, im Finanzbereich, der juristischen und Gesundheitsberufe und der Unternehmensführung (Florida 2011).

Berlin wird von Florida unter die großen Zentren der Innovation gezählt und „Hauptstadt der Subkulturen“ genannt (Florida 2008, S. 23). Auch das Stadtforum Berlin 2020, das die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt als Forum mit dem Ziel „die öffentliche Meinungsbildung zu aktuellen Thema und Entwicklungsperspektiven der Stadtentwicklung zu ermöglichen und den öffentlichen Diskurs zu befördern“ betreibt, beruft sich auf das Konzept der „kreativen Klasse“ von Richard Florida. In einem Paper zu einer Veranstaltung im Stadtforum Berlin 2020 am 3. Februar 2006 mit dem Titel „Talents, Technology, Tolerance. Berlin im internationalen Wettbewerb. Ergebnisse aus der Sicht des Beirats“ (Bodenschatz et al. 2006) stellten die Beiratsmitglieder Harald Bodenschatz, Marta Doehler-Behzadi, Undine Giseke, Michael Krautzberger und Louise Adrian fest, die neue „kreative Klasse“ nach Richard Florida sei sehr mobil und würde durch „kreative Zentren“ angezogen. Nicht nur die technologischen Voraussetzungen und ein ausreichendes hoch qualifiziertes Arbeitskräftepotential seien wesentlich, sondern auch und vor allem
„eine kreative Stimmung, die durch eine Vielfalt von Ethnien und Lebensstilen, Kultur und Subkultur, Straßenleben (Nachtleben, Cafekultur etc.), mentale Offenheit und Toleranz entsteht. Damit rücken verdichtete, gemischte, bunte, lebendige Innenstadtquartiere in attraktiven Großstädten verstärkt in den Focus der Standortsuche solcher Unternehmen. (…) Die wissens- und kulturbasierten Ökonomien, z. B. im Bereich Forschung und Entwicklung oder unternehmensorientierte Dienstleistungen, werden zum Motor der Transformation (…). Die Motor- bzw. Pionierfunktion in der Organisation des ökonomischen Erfolgs greift dort, wo die „kreative Klasse“ sich verortet. Ihr werden andere Akteure und Industrien folgen“ (Bodenschatz et al. 2006).